Mit diesem Satz ist Antje Kunstmann aufgewachsen, nun geht es ihren Töchtern so, und sie fragt sich: Warum dürfen stillere Kinder nicht einfach sein, wie sie sind?
Neulich war es mal wieder so weit: „Du könntest dich mehr beteiligen“ stand unter der Rückmeldung zu einem Projekt, das unsere elfjährige Tochter mit ihrer Klasse mehrere Wochen lang bearbeitet hatte. Es ist der Satz, den bereits ich in meiner Schulzeit am häufigsten gehört habe. In jedem Zeugnis stand er, von jedem Elternsprechtag kam meine Mutter damit zurück. Und nun begleitet er mich wieder. Seit unsere älteste Tochter vor über zwölf Jahren in die Schule kam und anschließend Kind zwei, drei, vier, steht er in jedem Zeugnis und wird in jedem Lernentwicklungsgespräch, wie es jetzt heißt, formuliert. Einziger Unterschied zu früher: Wir Eltern müssen die Botschaft von Lehrerin oder Lehrer nicht mehr weitertragen, denn die Kinder sitzen jetzt ja selbst dabei.
Warum das Kind nicht einfach akzeptieren, wie es ist?
Es ist erstaunlich, wie unermüdlich der Wunsch nach mehr mündlicher Beteiligung vorgebracht wird. Und vielleicht sogar bewundernswert, wenn selbst nach Jahren immer noch daran geglaubt wird, dass er erfüllt werden kann. Spricht daraus nicht die feste Überzeugung, dass in jedem Kind noch unentdeckte Potenziale schlummern, die man nur irgendwie herauskitzeln muss? Ich sage Nein. Ein Kind in seiner Persönlichkeit nicht anzuerkennen, sondern zu etwas anderem machen zu wollen, ist pädagogische Selbstüberschätzung.
Es gibt Menschen, die sich gern unglaublich viel mehr mitteilen würden, aber sich nicht trauen, und unter dieser Angst leiden. Das ist nicht schön, und ihnen sollte geholfen werden, nicht zuletzt von Lehrerinnen und Lehrern. Aber davon abgesehen gibt es eben einfach auch stillere Menschen und solche, die mitteilsamer sind. Ob man intro- oder extrovertiert ist, gehört zu den ziemlich stabilen Persönlichkeitseigenschaften. Ich bin eher Ersteres, meine Kinder, so unterschiedlich sie sonst auch sind, ebenfalls – und das ist völlig in Ordnung. Ich möchte, dass sie mit diesem Wissen aufwachsen und nicht ständig hören, sie sollten etwas darstellen, was sie nicht sind.
Eine Klasse voller Franks?
Nicht zuletzt funktioniert eine Klasse, genau wie jede andere Gruppe, schlicht nicht, wenn alle gleichermaßen viel reden. Unsere eine Tochter, Oberstufe, hat einen Jungen in ihrer Klasse, nennen wir ihn Frank. Frank hat zu allem etwas zu sagen; sobald er ausgeredet hat, hebt er schon wieder den Arm. Wenn unsere Tochter Online-Unterricht hat und ich zufällig mithöre, klingt es über lange Strecken wie ein Podcast mit zwei Gesprächspartnern: Lehrer und Frank. Träumen Pädagog*innen wirklich von einer Klasse voller Franks? Schon zwei würden jeden Unterricht sprengen. Eigentlich ist schon einer unerträglich.
Es mag an der sogenannten sozialen Homophilie liegen, daran also, dass man Menschen besonders mag, die einem ähnlich sind, und tatsächlich finde ich Menschen sehr sympathisch, die eher dann reden, wenn sie wirklich etwas zu sagen haben, und ansonsten zuhören können (eine Fähigkeit, die nicht allen gegeben ist und nicht genug geschätzt werden kann). Um es mal so zu sagen: Leute, die nicht nur viel reden, sondern auch viel Schlaues, kenne ich kaum. Übrigens gehört auch Frank nicht dazu. Quantität und Qualität von Wortbeiträgen verhalten sich generell meist umgekehrt proportional zueinander.
Manchmal habe ich allerdings Bedenken, dass Menschen wie Frank nicht nur jetzt in der Schule bessere Noten bekommen (denn anders als bei mir hat die mündliche Beteiligung heute deutlich mehr Gewicht), sondern es auch später oft einfacher haben werden als meine Töchter. Über die Stärken von Introvertierten gibt es inzwischen viele Studien und Bücher – und auch darüber, dass es für die Stillen gerade in einer lauten und immer lauteren Welt nicht leicht ist, diese auch zu zeigen. Wäre es nicht schön, wenn zumindest die Schule dafür die Bedingungen schafft?
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Brigitte Redaktion:
Quelle: Brigitte 03/2021 / 20.01.2021
Autorin: Antje Kunstmann
Copyright: Gruner + Jahr GmbH
Bildquelle: pixabay.de