Wenn jemand Suizid begeht, reagiert das Umfeld meist erschrocken, entsetzt, fassungslos. Dann folgen Sätze wie: „Das hätte ich nie gedacht!“ oder „Wer wirklich nicht mehr will, den kann man eh nicht aufhalten!“. Ehrlich gesagt, das sehe ich anders.
In Deutschland setzen jährlich circa 10.000 Menschen ihrem Leben per Selbstmord ein Ende. Und das sind dreimal so viele wie es Tote durch Verkehrsunfälle gibt. In der faktischen Umsetzung liegen die Männer vorn, bei den Selbstmordversuchen sind es die Frauen. Entscheidend ist, dass acht von zehn Selbstmordkandidaten vorwarnen! Ja, man könnte viele Selbstmorde verhindern. Man…wir…
Am Beispiel von Lina (der Name wurde geändert, die Story ist real) möchte ich einen Verlauf darstellen. Einen, der uns alle hoffentlich hellhöriger macht. Lina ist Ende 40, eine positive Person, glücklich verheiratet, auch mit den Kindern läuft alles. Sie hat einen netten Freundeskreis und bisher das Gefühl, dass sie nicht alleine ist. „Wenn ich um Hilfe bitte, dann ist immer jemand da.“, das ist ihre Erfahrung bisher.
Lina stürzt in eine Krise, nicht, da ein offensichtlich großes Drama passiert, sondern durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Ein Punkt ist, dass sich ihre Hormonlage verändert. Stimmungsschwankungen entstehen, sie macht sich als Folge Gedanken über das Alter, das Altern und den Tod. Sie stellt alles noch einmal in Frage. Wird unsicher. Und nicht, weil sie das will, sondern: „Das Gefühl ist schrecklich.
Es passiert mit mir. Irgendetwas passiert mit mir. Es ist, als würde ich danebenstehen. Ich habe ganz oft das Gefühl, ich beobachte mich von außen. Da rollt etwas auf mich zu und ich kann es nicht stoppen. Ich komme mir so blöd vor. Es gibt ja keinen richtigen Grund. Und trotzdem, ich bin irgendwie tief verzweifelt. Auf einmal ist da Angst und Unsicherheit. Ich kann das gar nicht in Worte fassen.“.
Sie merkt, dass sie alles auf die Goldwaage legt, fühlt sich bei jeder Kleinigkeit angegriffen. Und weil sie es vom Kopf her nicht begreift und vorerst auch nicht akzeptiert, drückt sie diese Gefühle runter, schämt sich und hat Angst, verrückt zu werden. Wenn sie sonst Probleme hatte, ist sie zu einer Freundin gegangen und hat mit ihr geredet. Doch dieses Mal ist es anders. Sie kann es nicht in Worte fassen. Sie kann nur andeuten und dann hoffen, dass ihr Gegenüber aufmerksam ist. Für mehr hat sie keine Kraft.
Sie sucht verzweifelt nach Hilfe, ohne aber richtig darüber reden zu können. Da ihr die Worte fehlen, da die Krise so unkonkret ist und viel tiefer geht als alles davor. Jede unbedachte Reaktion Anderer auf ihr vorsichtiges Andeuten lässt sie noch tiefer stürzen und deshalb werden ihre Hilfeschreie immer leiser. Sie funktioniert nach außen, dass sie ruhiger wird, bekommt scheinbar niemand mit.
Lina hat vorgewarnt, sie ist eine von den acht. Doch es ist leider ein bisschen wie Murphys Law, das häufig die schlimmeren Krisen bei anderen viel weniger Beachtung finden. Der Mensch tut sich meist schwer mit Extremen. Die Wenigsten kommen damit klar, wenn ein Freund auf einmal Millionär wird, drei Stufen die Karriereleiter aufsteigt, ein Topmodel heiratet. Und so ist es auch in die andere Richtung. Wenn jemand neben einem abstürzt, dann blockiert das Gehirn manchmal, da es diese Wahrheit nicht sehen möchte, vielleicht auch Angst vor der Verantwortung bekommt.
Lina hat gewarnt. Sie hat erzählt, dass es ihr gerade gar nicht gut geht. Konkreter konnte sie nicht werden. Und die Reaktionen waren „normal“, aber für dieses Mal hat es nicht gereicht. Im Gegenteil sogar, alles wurde schlimmer. Eine Freundin hat angeboten: „Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst, dann bin ich gerne für dich da!“. Klingt nett, oder? Aber Lina hatte ja Bescheid gegeben. Nur die Kraft sich noch einmal und konkreter zu melden, die hatte sie nicht.
Und die Freundin ließ sie – sicher gut gemeint – in Ruhe. Andere meinten: „Wird schon wieder!“ oder „Du bist doch so ein Stehaufmännchen!“. Was soll Lina dazu sagen? Sie glaubt in dem Moment nicht daran, sie fühlt sich einfach furchtbar alleine, die Panik verstärkt sich. Eine andere Freundin erzählte stattdessen von der eigenen Krise, fragte bei Lina hingegen nicht nach, sondern bedankte sich für ihr Zuhören. „Warum sah niemand meine Not?“, das fragt sie sich.
Was fehlte war ein konkretes Nachfragen wie „Was genau ist los? Wie kann ich dir helfen?“. Man hilft, indem man das Gefühl vermittelt, dass man merkt, dass es ernst ist, dass man den anderen ernst nimmt. Uns steht nicht zu, zu urteilen, welche Krise einen Selbstmord wert ist. Wir können nur da sein. Und auf Veränderungen achten – in beide Richtungen, positive und negative. Hinhören und fragen, das ist unser Job als Partner und Freund.
Linas Mann hat gesehen, wie es ihr geht, aber auch er hat die Situation unterschätzt. An – aus seiner Sicht – besseren Tagen, aus Linas Sicht Tagen, an denen sie besser funktionierte, aber mit dem gleichen, schrecklichen Gefühl in sich, da hat ihr Mann sie behandelt wie immer. Lieb halt, wie immer. Er wollte ihr damit das Gefühl geben, dass alles normal ist. Aber für sie war nichts normal.
Und so entstand das Gefühl, der Situation komplett alleine ausgeliefert zu sein. Ihre Angst, dass sie einfach springen würde, um diesem Gefühl der Ohnmacht zu entgehen, war gigantisch. „Ja, ich war ein rohes Ei, ich war wund am ganzen Körper, ich war in die Tiefen meiner Selbst verunsichert und ängstlich. Ich konnte nicht vermitteln, was mit mir passiert. Ich wusste nicht, was ich sagen oder fragen sollte. Jetzt bin ich sehr dankbar, dass ich es irgendwie doch noch geschafft habe, um Hilfe zu bitten und diese auch prompt bekommen habe.
Bei einem Therapeuten anzurufen, das war sehr schwer. Aber da hat es zum Glück gereicht zu sagen, dass es mir nicht gut geht. Und ich konnte endlich die Verantwortung abgeben.“
Lina hat sich nach außen nicht verändert und so weitergemacht wie bisher. Aber innerlich ist viel passiert. Sie hat in kleinen Schritten akzeptiert, dass Krisen passieren können – auch anfangs scheinbar ohne Grund und völlig aus dem Nichts. Lina ist vorsichtiger mit sich und auch mit Anderen geworden. Und sie hat mit der Zeit verarbeitet, dass ihr Mann und ihre Freunde ihr Bestes gegeben haben, dass niemand in sie hineinschauen konnte, dass niemand erahnen konnte, was da mit ihr passierte. Der Schock, dass sie sich in ihrem schlimmsten Moment von allen verlassen gefühlt hat, sitzt tief. So tief wie der damalige Wunsch, dass jemand mitbekommt, wie verzweifelt sie ist. Sie wird ab jetzt besser hinhören und klarer Hilfe anbieten, denn sie möchte da sein, sollte es jemanden mal so gehen wie ihr.