Magersucht hat während Corona eine neue Hochkonjunktur. Viele fragen sich, warum. Dabei ist es eine logische Konsequenz. Wie man sie erkennt, wie man hilft und was man niemals tun oder sagen sollte…
Magersucht ist mehr als die Sucht, mager zu sein. Man kann es sogar so formulieren, dass die körperliche Komponente dieser Sucht einfach „nur“ das Symptom ist. Viel schlimmer jedoch sind die „Begleiterscheinungen“: Unsicherheit, Selbstzweifel, Perfektionsdruck.
Natürlich gibt es nicht DEN Magersüchtigen, aber es gibt einige Grundveranlagungen, die ein mehr oder weniger hohes Risiko haben. So wie das bei allem im Leben ist. Wer mutig durch die Welt geht, der wird häufiger hinfallen, aber auch häufiger etwas Spannendes erleben. Wer introvertiert ist, wird länger brauchen, um Kontakte zu knüpfen, aber seltener enttäuscht werden. Es geht also nicht darum, ob man besser oder schlechter ist, sondern nur darum, WIE man ist. Oder in diesem Fall: isst.
Du isst, wie du bist.
Wer als Grundtyp schüchtern ist, unsicher, ehrgeizig, sich selbst aber eher zurücknimmt, beobachtet, mitfühlt, sich wohler fühlt zu zweit als in großen Gruppen, der wird anfangs Corona schneller etwas Gutes abgewonnen haben. Da musste man nicht raus, nicht in die Schule oder zur Arbeit. Das Leben war weniger anstrengend, da man sich weniger auf andere einstellen musste. Weniger Kontakte – kein Problem!
Corona läuft und läuft und läuft…und es ist angenehm, sich nicht auseinandersetzen zu müssen mit anderen, sich stattdessen Anregungen aus dem Internet zu holen. Inspiration dafür, wer ich sein könnte, wie ich sein möchte: beliebt, stark, voller Kontrolle über mein Leben. Eine Kontrolle, die ich aktuell nicht habe. Der Kontrollverlust durch Corona ist den Wenigsten bewusst und die meisten würden es sogar abstreiten. Aber tief in uns, da ist er da, der Kontrollverlust: der Mensch wird bedroht, das Leben. Man kann trotzdem funktionieren. Oder man entwickelt Ängst, Zwänge, Depression…Magersucht.
Ewige Kontrolle
Ja, der Mensch ist ein Kontrolletti. Deshalb haben wir so viele Ängste: vor dem Tod, dem Fliegen, vor allem, was wir nicht begreifen oder beherrschen können, vor Andersartigkeit, vor fremden Situationen. Der eine mehr, der andere weniger, bei bis zu 10 % der Bevölkerung behandlungsbedürftig. Dann kam Corona und hat eine neue Angst mitgebracht, eine greifbare, nahe, nicht einschätzbare. Man kann sie leugnen, man kann in Panik erstarren, man kann einfach weitermachen, man kann verdrängen oder zu ihr stehen. Nur kontrollieren, das kann man sie (fast) nicht.
Kontrollverlust erzeugt also Reaktionen und zwar individuell die, welche in der Veranlagung des Einzelnen und geprägt durch das Umfeld am besten „passen“. Zusammengefasst: Ein Mensch ist schüchtern. Er soll weniger Kontakte haben wegen Corona. Corona schürt einen Kontrollverlust. Der Mensch sucht halt im Internet. Dort findet er starke Menschen, die ihr Leben im Griff haben. Die gut aussehen, schlank sind, Sport treiben. Der Körper gibt die Option auf Kontrolle. Kontrolle in einer unkontrollierbaren Zeit. Parallel hat dieser Mensch weniger Kontakt mit Gleichaltrigen, mit Nicht-Medialen, mit Normalen. Daher verschiebt sich das gefühlte Normal-Bild hin zu schlanker. Und das wird nicht nur in der aktiven Beschäftigung mit den Medien verschoben, sondern im Tagtäglichen. Magersüchtige werden viel zu lange für ihre schlanke Figur gelobt (und sie würden wahrlich lieber etwas anderes hören, aber dazu später). Zu dünn gibt es in unserer Gesellschaft kaum!
Veranlagung, Medien, innerer Rückzug…und das Umfeld
Das Umfeld kann stärken, aber auch schwächen. Ungünstig: Strenge Eltern, die auf Leistung trimmen und auf das achten, „was die Nachbarn denken“. Vielleicht auch die Ablösung von einem bisher sehr nahen Menschen, in der Familie oder im Freundeskreis. Wer sich ablöst aus Abhängigkeiten, der wirkt stark, ist aber angreifbar und unsicher. Wer nach Halt sucht in den Medien, kann optisch besonders cool wirken, ist im Innern aber oft einsam und traurig.
Niemand wird magersüchtig, weil es ihm gerade so gut geht.
Das Furchtbare ist, dass zuerst der Körper eine Chance gibt auf Kontrolle. Eine Kontrolle, die dann komplett verloren wird. Und dies so schlimm, dass man irgendwann nicht mehr sehen kann, wie dünn man ist. Magersüchtige sehen sich dann als dick und dicker als faktisch viel Dickere. Das ist unendlich grausam!
Bis zu 15 % aller Magersüchtigen sterben. Die Wenigsten verhungern. Viele nehmen sich das Leben. Oder sie sterben mit starken Schmerzen an multiplem Organversagen. Magersucht ist der Tod auf Raten.
Ab wann ist Vorsicht geraten?
Körperlich ist das einfach zu benennen. Wer einen BMI unter 17 hat, der ist zumindest stark gefährdet. Wie oben erwähnt, können das Viele nicht erkennen. Wo ist die Grenze zwischen dünn und zu dünn?
Die ersten und typischen Verhaltensänderungen sind ein starker Fokus auf das Thema Essen und hierbei fast ausschließlich gesunde Nahrungsmittel, das Ablehnen bestimmter Nahrungsmittel bzw. Nahrungsmittelgruppen, das auffallend langsame und wählerische Essen. Häufig wird parallel ein weiterer Kleidungsstil bevorzugt, um sich „zu verstecken“. Der soziale Rückzug trifft häufig zeitversetzt ein. Außer es gibt Corona… Zudem verstärken die meisten Magersüchtigen ihr Sportprogramm. Sie werden fixierter und strenger in Abläufen. Klare Regeln schaffen Sicherheit.
Wo ist der Weg raus?
Wer so hungert, der versucht dem „eigenen Nichts“ zu entkommen, indem er den Körper dem Eigenbild anpasst.
Der erste Schritt ist zu erkennen, was man da gerade tut. Dass man bereit ist, zu sterben. Man muss sehen lernen, dass Nicht-Essen der Hilfeschrei ist und es eigentlich um etwas Anderes geht: Wer bin ich, was will ich…Selbstwertgefühl, Eigenliebe….
Das eine ist also das Essen. Wie bekommt man gesund ordentlich Pfunde auf die Waage? Wie finde ich mich schön? Wie gehe ich mit dem geschrumpften Magen um? Wie kippe ich nicht in die nächste Ess-Störung?
Das andere – und das ist durchaus langwieriger – ist zu lernen, dass man liebenswert ist, so wie man ist.
Niemals, bitte niemals
Verständlicher Top-Fehler einiger Eltern ist es, das Kind zum Essen zu drängen. Natürlich wird es das Gegenteil tun. Es bekommt Aufmerksamkeit und das braucht seine Seele (unbewusst) ganz dringend und zieht die logische, aber falsche Konsequenz: Je weniger ich esse, desto mehr bin ich präsent für andere.
Wichtig: Magersüchtige wollen nicht im Mittelpunkt stehen, es geht ihnen nicht um Aufmerksamkeit oder falsches Lob. Sie haben ein geringes Selbstwertgefühl.
Das wohl Schlimmste, was ich einem magersüchtigen Menschen – oder auch einem ihm Nahestenden – sagen kann ist: „Du (Er/Sie) siehst ja gar nicht so dünn/schlimm/krank aus!“
Wenn jemand an Krebs leidet, wer würde dann sagen, dass er doch gar nicht so schlimm aussieht? Wohl niemand! Und warum? Weil man damit das Gefühl vermittelt, die Erkrankung nicht ernst zu nehmen. Man „sieht“ sie ja nicht. Bei Krebs undenkbar dies zu sagen, aber warum dann bei jemanden, der seine Krankheit an seinem Körper ausarbeitet? Da ist das noch viel schlimmer!
Zitat einer Magersüchtigen: „Ich bin es nicht wert, gesehen zu werden. Und dann sagt man mir, man sieht noch zu viel. Wie kann ich da jemals wieder Hunger haben?“
Zitat einer Mutter: „Ich fühle mich doch eh ohne Ende schuldig. Und ich habe solche Angst, mein Kind zu verlieren. Und jetzt sagt sie (Freundin) mir, es sei halb so wild?“
Was jetzt?
Aus diesem Tief herauszukommen, das erfordert Zeit und Geduld. Und von Außenstehenden Respekt. Es dauert, und zwar Monate oder Jahre. Wenn die ersten Kilos endlich drauf sind oder der Betroffene mal „reinhaut“ oder einfach entspannt ist und lacht, dann heißt das noch lange nicht, dass alles wieder gut ist. Sätze bzw. Unterstellungen wie „Wie schön, dass alles wieder gut ist.“ oder „Na, läuft doch schon viel besser.“ oder „Endlich isst du wieder.“ oder oder oder…sind alle Gift.
Auch Schuldzuweisungen sind unsinnig. Warum den Betroffenen fragen, warum er das tut!? Wenn er das wirklich wüsste, dann hätte er sich davor schützen können. Zumal es meist ein Mix ist aus diversen Komponenten: Veranlagung, Strukturen, Erlebnisse, Beeinflussung von außen, um nur ein paar zu nennen. Auch den Eltern gegenüber wäre häufig ein mehr an Sensibilität hilfreich. Die machen sich Sorgen und geben sich Schuld. Warum werden sie so oft gefragt, warum es ihnen nicht früher aufgefallen sei oder das Kind wird bewertet als „war ja schon immer anders…“. Man sollte erst einmal davon ausgehen, dass alle Eltern ihr Bestes geben.
Was dann?
Wenn man helfen möchte, sind zwei Aspekte wichtig zu wissen: Einerseits geht es um das Gefühl des Nicht-Wert-Seins und entsprechende Unsicherheit, zum anderen um wenig Kraft. Also zeigt man einfach nur, dass man da ist. An manchen Tagen übersteigt es die Kraft des Betroffenen, sich auch noch mit einem Gegenüber auseinanderzusetzen. Aber es tut immer gut zu wissen, da wäre jemand. Man zeigt, dass man den Betroffenen so annimmt und wertschätzt, wie er ist und benennt ggf. unverkrampft, was man an ihm mag wie z.B. das Lachen, bestimmte Charakterzüge wie Humor oder Zuhören-können.
Denn über allem steht: Niemand sucht sich diesen Weg freiwillig aus.
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